Lily, eine persönliche Geschichte

von Sandra Lindberg9. Januar 2024
Lily

Am 24.11.2023 sass ich bitterlich weinend auf dem Fussboden meiner Tierklinik mit meinem Mann und meinem toten Hund Lily. Ich fühlte mich schuldig und gleichzeitig habe ich überhaupt nicht verstanden, wie wir in die Situation kommen konnten, dass wir eine zweijährige, körperlich scheinbar gesunde Hündin, soeben haben einschläfern lassen. 

Ich hatte so viele Fragen und wollte Antworten. Ein mir bekannter Tierpathologe half mir sofort, eine vor allem neuropathologische Autopsie in die Wege zu leiten. Eine Autopsie die in allererster Linie für mich persönlich wichtig ist, denn ich muss wissen ob eine eher seltene körperliche, eventuell sogar genetische Ursache gefunden werden kann, die sich in allererster Linie natürlich auf weitere Zuchtentscheidungen auswirkt. Auf persönlicher Ebene könnte sie mir die Frage nach meinem eventuellen eigenen Versagen beantworten.

Geschichte

Lily war in vieler Hinsicht recht einzigartig, von daher war es nicht immer sehr leicht ihre Verhaltensauffälligkeiten objektiv zu bewerten. Auch beschreibe ich, ihre Halterin, ihre Geschichte, meine eigenen Beobachtungen, meine persönliche Interpretationen und meine eigenen Gedanken. Mein Mann würde eventuell eine leicht unterschiedliche Geschichte erzählen, aufgrund eigener Beobachtungen oder Interpretationen. 

Im Winter 2021 kam Lily als Einzelwelpe auf die Welt und konfrontierte uns in den ersten Wochen mit der Situation, ihr eine umfassende Frühsozialisation zukommen zu lassen ohne den für das soziale Lernen so wichtigen Einfluss von Geschwisterwelpen. 

In ihren ersten Lebensmonaten zeigte sie auch ein überwiegend normales Welpen und Junghundeverhalten. Sie war aufmerksam, neugierig, verspielt und hat sich sehr schön in unser bestehendes „Rudel“ integriert. Die einzige Auffälligkeit, die sie recht früh zeigte war ihre Ablehnung fremden Hunden gegenüber. Auch wenn dies nichts mit ihrer späteren Entwicklung zu tun hat, so möchte ich es der Vollständigkeit halber erwähnen. 

Bereits in der Welpenspielgruppe hat sie jeden anderen Welpen auf Abstand gehalten und lieber mit sich selbst oder uns gespielt. Im Jundgundekurs und bei Spaziergängen hat sie jeden Kontakt vermieden und machte einen grossen Bogen um jeden fremden Hund. Über ein Jahr bin ich jede Woche mit ihr zu eine grossen Sozialisierungsgruppe für Hunde gegangen und auch wenn sie fast nie einen fremden Hund in ihrer direkten Nähe toleriert hat, so lernte sie doch die Situationen auszuhalten. 

Krankheit

Im Frühjahr 2023 sind uns sehr langsam andere Verhaltensveränderungen aufgefallen, die so schleichend anfingen, das wir sie erst kaum bemerkt haben. Rückblickend ist uns beiden in Erinnerung, das wir oft dachten, das Lily schlecht schläft. Denn als erstes bemerkten wir, das sie nach dem Aufwachen sehr lange braucht um richtig wach zu werden. Sie wirkte damals anfangs noch sehr verunsichert und reagierte hin und wieder gereizt, falls ein anderer Hund in ihrer Nähe war. 

Als wir eines Nachts aufwachten, hatte die kleine Lily die grosse Maya in der Schnauze. Was diese Situation ausgelöst hat, können wir nur vermuten. Die für uns im Nachhinein logischste Erklärung ist, das Maya nachts wohl aufgestanden ist, Lily dadurch geweckt wurde, und in ihrer Unsicherheit in einen Verteidigungsmodus ging. 

Die Konsequenz nach dieser Nacht war, das ich Lily in meiner Tierklinik von Kopf bis Fuss, vom Aussen und Innen habe durchchecken lassen. Zu diesem Zeitpunkt wurde rein gar nichts gefunden. Lily war ein scheinbar körperlich quietschgesunder Hund. 

Eine weitere Veränderung, die mir in dieser Zeit aufgefallen war; Lily suchte zwar weiterhin Körperkontakt zu uns und lag sehr gerne neben unseren Beinen, allerdings wollte sie immer weniger berührt oder gestreichelt werden. 

Im Sommer kam es dann zu unserer ersten schweren Situation. Ich wollte mit den Hunden spazieren gehen und rief sie zu mir. Alle kamen und wurden angeleint. Nur Lily kam nicht. Ich fand sie in einem Hundebett in meinem Büro, wo sie gerade aufgewacht war. Sie schaute mich an und knurrte mich das erste mal an. Eine Reaktion, die mir noch nie einer meiner eigenen Hunde entgegen gebracht hat und die mich im ersten Moment sehr irritiert hat. Ein völlig intolerableres Verhalten dem eigenen Halter gegenüber. Ich wusste, das ich die Situation nicht verlassen darf und diese „ausdiskutieren“ muss. Mein Büro, meine Regeln. So schnell, wie Lily mir dann in den Arm gebissen hat, so schnell konnte ich kaum reagieren. 

Da wir Lily für körperlich komplett gesund gehalten haben, glaubten wir, das sie ein reines Dominanz Problem mit mir entwickelte, denen wir mit gezielten Verhaltenstrainingsmethoden entgegenwirken können. Da sie anfing immer weniger normales hündisches Verhalten hier bei uns zu zeigend immer mehr schlief und es zu immer häufigeren Situationen kam, in denen sie mich nach dem Aufwachen anknurrte, trug sie dann auch öfters einen Maulkorb. 

Erst jetzt, im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie sehr sich unser Leben verändert hatte. Aus unserer kleinen süssen Lily war ein kleines Monster geworden. Aber eben auch nicht immer. Nur wenn sie geschlafen hatte oder an Stellen angefasst wurde, was sie nicht mochte. Gleichzeitig irritierte sie uns so oft, sie schlief, wachte auf, knurrte mich oder die Hunde an und zwei Minuten später kam sie zu mir und legte sich eng neben mich oder brachte mir ein Spielzeug und wollte spielen. 

Damals find ich an mich zu fragen, ob Lily eventuell ein neurologisches Problem haben könnte. Von tierärztlicher Seite wurde mir gesagt, das das natürlich eine, wenn auch seltenere, Möglichkeit sein könnte. Diagnostik in dem Bereich bei Hunden nicht ganz so einfach und sehr kostenaufwendig ist und auch dann nur selten zu einem Ergebnis führt. 

Das Ende

Ab Oktober bemerkten wir ein neues Verhalten an Lily. Ab und zu, wenn einer von uns länger mit einem oder mehreren der anderen Hunde draussen war, dann reagierte sie mit Knurren, sobald derjenige mit Hunden zurück nach Hause kam. In solchen Situationen trug sie dann auch oft einen Maulkorb. 

An einem Samstag Mitte November war ich mit ihren Eltern Diting und Panhu ein paar Stunden unterwegs. Wir kamen nach Hause und wurden von Maya und meinem Mann begrüsst, Lily stand daneben und fing an ihre Mutter Diting anzuknurren. Diting, Panhu und Maya sind alle sehr defensive Hunde, die sich auf so Verhalten noch nie eingelassen haben. Die haben Lily einfach ignoriert. Da Lily nicht aufgehört hat, schob mein Mann sie sachte aber bestimmt mit dem Bein zur Seite. Und dann brach unsere Hölle los. Lily sprang meinen Mann an und biss ihn zum ersten mal. Da ich noch meine sehr stabile Jacke trug ging ich dazwischen. Wir haben es dann zu zweit geschafft sie soweit festzuhalten, damit wir ihr ihren Maulkorb anziehen konnten. Das ging nicht ohne weitere Beissversuche, die zum Glück von meiner sehr guten Jacke fast ausgebremst wurden.

Nach diesem Schock für meinen Mann haben wir Lily den Rest des Abends alleine in einem Zimmer gelassen. Beim abendlichen Spaziergang war sie ganz normal und Zuhause zog ich ihr den Maulkorb aus, da es mit diesem massangefertigtem Ledermaulkorb kaum möglich ist zu fressen. Nach dem Fressen wollte sie spielen, alles schien gut. Wir wussten, das wir etwas unternehmen müssen. Denn das es so nicht weitergehen kann war jetzt auch meinem Mann klar. Dann passierte es. Ohne Vorwarnung sprang mich Lily an und verbiss sich heftig in meinen Arm. Danach in den anderen Arm, in ein Bein und eine Brust. Meinen Mann traf es dann auch am Arm und am Oberkörper. 

Wir beide wussten, das die finale Grenze überschritten war. Und so sassen wir ein paar Tage später auf dem Fussboden meiner Tierklinik und haben Lily gehen lassen. Gehen lassen, weil vor allem auch Lily gelitten hat, denn sie hat ihre Welt nicht verstanden. 

Heute, fast zwei Monate später, weiss ich, dass wir das einzig richtige getan haben. Ich weiss, das Lily keine Schmerzen hatte und Ihr Verhaltensauffälligkeit nicht von uns verschuldet war. Und auch wenn ich rein rational weiss, dass ich keine Schuld trage, so sitzt der Schmerz tief. Der Schmerz an die Erinnerung an einen kleinen, so oft so verspielten, lieben und neugierigen kleinen Hund, der leider manchmal nicht mehr wusste wo er ist und wer die anderen Hunde und Menschen sind. 

Durch Lily habe ich viel gelernt und dafür bin ich ihr dankbar. Sie wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. 

Lily
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