Teil 2 - Extrem schön – extrem krank … – Hundezucht kritisch betrachtet

von Sandra Lindberg18. Januar 2023
Lily

Der folgende Artikel von Univ.-Prof. Dr. Irene Sommerfeld-Stur ist 2015 in der deutschsprachigen Hundezeitschrift WUFF erschienen.

Die Bedingungen der Hundezucht und Einfluss und Bedeutung der Hundezuchtverbände auf die Entwicklung der Hunderassen und deren Gesundheit wurden in der vorigen Ausgabe von WUFF ausführlich beschrieben. Nun geht es darum, wie Hundezüchter, Tierärzte, Welpenkäufer und sog. Formwertrichter auf Hundeausstellungen dazu beitragen, dass so viele Hunde extrem krank gezüchtet werden, zugleich mit dem Anspruch extrem schön zu sein. Nur die Kenntnis der Ursachen ermöglicht eine Wende zum Positiven. Der zweite Teil des zweiteiligen Artikels der ­renommierten Expertin für Tierzucht und Genetik, Univ.-Prof. Dr. Irene Sommerfeld-Stur.

Sicherlich eines der größten ­Probleme in der Hundezucht sind die Hundezüchter selbst. Es gibt sie in der gleichen individuellen Vielfalt wie ihre Hunde. Und doch haben sie vieles untereinander gemeinsam. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist sicherlich die emotionale Bindung an den Hund. Primär ja nichts Schlechtes, wir alle lieben unsere Hunde und es wäre traurig, wenn das nicht so wäre. Wäre da nicht die riesengroße rosarote Brille, die den Blick auf den eigenen Hund trübt. Und die es nicht zulässt, dass die Fehler dieses Hundes nüchtern und realistisch genau so gesehen werden wie seine Vorzüge. 

Ein spezielles Problem ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass die meisten Züchter nur einen Hund, meistens eine Hündin haben. Damit ist für den einzelnen Züchter eine echte Selektionsmöglichkeit gar nicht gegeben. Denn wenn sich herausstellt, dass diese eine Hündin, aus welchen Gründen auch immer, zur Zucht nicht geeignet ist, dann bedeutet das für den Besitzer genau genommen eine Zuchtsperre für die Lebenszeit dieser Hündin. Nur ganz wenige Züchter können sich in so einem Fall von der Hündin trennen oder eine zweite dazunehmen. Und da der Wunsch zu züchten in den meisten Fällen ein stark emotional motivierter ist, fällt eine Entscheidung dann sehr oft doch zugunsten eines Zuchteinsatzes aus.

Schlechter Befund schwer zu akzeptieren

Menschlich lässt sich das sogar in vielen Fällen recht gut nachvollziehen. Stellen wir uns einmal folgendes Szenario vor. Jemand hat eine sehr schöne und sehr liebe Labrador Retriever-Hündin. Die Hündin hat ein sehr angenehmes Wesen, lässt sich gut erziehen, die ganze Familie liebt sie. Sie ist gesund und munter, tobt mit den Kindern im Garten herum, begleitet die Familie auf langen Wanderungen, alle sind glücklich mit ihr. Weil sie eine so tolle Hündin ist, kommt der Wunsch auf, mit ihr einmal einen Wurf zu machen. Man will alles richtig machen, meldet sich bei einem Zuchtverband an, geht auf die notwendigen Hundeausstellungen und zu den vorgeschriebenen Zuchtuntersuchungen. Und dann passiert es: der Röntgenbefund ergibt den Befund HD-C, also eine mittelgradige Hüftgelenksdysplasie, das Aus für einen Zuchteinsatz. Das Problem dabei ist, dass für die Besitzer dieser Befund kaum nachvollziehbar ist. Denn der Hund ist ja gesund, zeigt keinerlei Lahmheit. Die Besitzer sind auf die Aussage des Tierarztes angewiesen, der auf Grund eines Röntgenbildes, mit dem die Besitzer als Nichtmediziner kaum etwas anfangen können, seine Diagnose gestellt hat. Wenn der Hund lahmen oder sonst irgendwelche Symptome zeigen würde, wäre es für die Besitzer wohl leichter, einen Zuchtausschluss zu akzeptieren.

Krankheitsdiagnose trotz (vorerst noch) fehlender Symptome

Erschwert wird die Akzeptanz eines Befundes durch die Züchter oft durch die Tatsache, dass das Ergebnis einer Screeninguntersuchung in vielen Fällen kein »unumstößliches« Ergebnis ist. Denn wird ein und derselbe Hund von einem anderen Tierarzt untersucht, kann es leicht passieren, dass der zu einem anderen Ergebnis kommt. Das kann schlechter oder auch besser als das ursprüngliche Ergebnis sein. Und abgesehen davon, dass unterschiedliche Ergebnisse nicht gerade förderlich für das Vertrauen der Besitzer in die Untersuchungsmethodik sind, ist es verständlich, wenn ein Hundebesitzer, der mit seinem Hund gerne züchten möchte, geneigt ist, dem für ihn günstigeren Befund zu glauben. 

Es ist aber eine der systemimmanenten »Tücken« von züchterischen Screeninguntersuchungen, dass die Hunde zum Zeitpunkt der Untersuchung in den meisten Fällen keinerlei Symptome zeigen. Das gilt für die verschiedenen Gelenkserkrankungen ebenso wie für viele Augenerkrankungen, Herzerkrankungen usw. Denn züchterische Screeninguntersuchungen entsprechen einer sogenannten Frühdiagnostik, also einer Diagnostik vor der klinischen Manifestation einer Erkrankung. Das macht im züchterischen Kontext auch Sinn, denn da geht es ja eben darum, Merkmalsträger einer Erkrankung möglichst frühzeitig zu erkennen, um zu verhindern, dass sie in der Zucht eingesetzt werden.

Eine Methode für alle Rassen?

Falsch negative und falsch positive Befunde sind im Rahmen der veterinärmedizinischen Diagnostik niemals ganz zu verhindern. Im Bereich der Screeningdiagnostik betreffen ihre Konsequenzen aber nicht nur den einzelnen Hund. Denn fehlerhafte Diagnosen können sowohl durch einen ungerechtfertigten Zuchtausschluss als auch durch einen ungerechtfertigten Zuchteinsatz eines Hundes Folgen für die nächsten Generationen haben. 

Ein weiteres Problem ergibt sich aus den laufenden Verbesserungen der eingesetzten Diagnoseverfahren, die immer feinere Abweichungen erkennen können. Und in diesem Zusammenhang ergibt sich die berechtigte Frage, wie weit denn eine erkennbare aber geringfügige Abweichung von der Norm überhaupt krankheitsrelevant ist. Zu beachten ist dabei auch die Frage, wieweit die üblicherweise als Maß für die Norm verwendeten Referenzwerte überhaupt für jede Rasse gleiche Gültigkeit haben. So zeigte z.B. eine aktuelle Studie (LAWRENCE et al, 2013), dass es bezüglich der Referenzbereiche hämatologischer Parameter durchaus große Unterschiede zwischen Rassen gibt, die bei der Einschätzung eines Befundes berücksichtigt werden sollten. Im Bereich der HD-Screeningdiagnostik wäre in diesem Zusammenhang z.B. auch die Frage von Interesse, wie weit denn der für alle Rassen als Normwert angenommene Norberg-Olssen-Winkel von 105 Grad überhaupt für alle Rassen Gültigkeit hat.

Mobbing gegen ehrliche Züchter?

Durch unklare Befunde verunsicherte Züchter sind aber nicht die Einzigen, die eine effiziente Selektion gegen genetische Erkrankungen erschweren. Es gibt auch Züchter, die sich ganz gezielt und ohne emotionale Rechtfertigung über Zuchtausschlussgründe beim eigenen Hund hinwegsetzen. In diesen Fällen ist der Hintergrund entweder finanzieller Natur oder der Wunsch nach dem Prestige eines erfolgreichen Züchters lässt es nicht zu, zuzugeben, dass ein eigener Hund ein genetisch bedingtes gesundheitliches Problem hat. Diese Züchter sind es dann auch, die um jeden Preis zu verhindern versuchen, dass Käufer eines Welpen, bei dem eine genetische Erkrankung vorliegt, über diese Erkrankung offen berichten. Und die anderen Züchter, die über Erkrankungen in ihrem Zwinger offen berichten, als Nestbeschmutzer bezeichnen, die die Rasse krank reden und damit den Verkauf von Welpen erschweren würden. Solche Züchter machen auch vor aktiven Vertuschungen und Verschleierungen genetischer Defekte nicht halt. Und sie machen auch nicht halt vor aktivem Mobbing anderer Züchter, die offen mit Erkrankungen einer Rasse umgehen. Die traurige Folge dieses Mobbings ist dann oft Resignation bei den Betroffenen. Denn man muss ja auch bedenken, dass für einen Züchter der Zuchtverband und seine Aktivitäten oft ein Teil des sozialen Umfeldes sind, dessen Verlust auch weitreichende emotionale Konsequenzen haben kann.

Verschleierung genetischer ­Defekte

Technische Möglichkeiten zur genetischen Verschleierung gibt es viele. Von eher kosmetischen Manipulationen wie dem Färben von Haaren über das bei manchen Rassen übliche Festkleben der Ohren beim jungen Hund, um bspw. ein rassetypisches Kippohr zu erzielen, bis hin zu veterinärmedizinischen Interventionen wie dem Anpassen von Gebissschienen zur Korrektur eines Caninusengstandes oder chirurgischen Maßnahmen wie der Korrektur von Lidfehlbildungen bis hin zur medikamentösen Vorbereitung eines Hundes auf einen Wesenstest. Die moderne Veterinärmedizin bietet heute unzählige Möglichkeiten zur Behandlung genetischer Erkrankungen, die durchaus segensreich für den einzelnen Hund sein können. Im züchterischen Kontext muss aber bedacht werden, dass die tierärztliche Behandlung immer nur auf den Phänotyp abzielt, der Genotyp bleibt unverändert.

Krankheiten schönreden

Und dann sind da noch jene Züchter, die sich die gesundheitlichen Probleme ihrer Rasse schönreden oder sie einfach ignorieren. Da wird dann das verzweifelte Röcheln eines nasenlosen Mopses als charmantes »Plaudern« interpretiert, die entzündeten Lidbindehäute des bei manchen Rassen beliebten sog. Karo-Auges zum treuherzigen Blick erklärt oder die Taubheit bei manchen weißen oder gescheckten Hunden billigend in Kauf genommen, um dem Rassestandard zu entsprechen.

Es gibt auch sie, die seriösen engagierten Züchter

Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass es auch andere Züchter gibt. Solche, denen die züchterische Verbesserung einer Rasse ein echtes Anliegen ist, solche, die Erfahrung und Wissen haben und sich nach Kräften bemühen, Informationen über das genetische Umfeld ihrer Hunde zu sammeln und danach nach bestem Wissen und Gewissen ihre züchterischen Entscheidungen treffen. Züchter, die jede Möglichkeit zur Ausbildung und Fortbildung nützen und alles lesen, was ihnen an fachlicher Literatur in die Hände kommt. Und die alle verfügbaren Möglichkeiten zur Diagnose genetischer Erkrankungen nützen und in ihrem Verband engagierte Überzeugungsarbeit leisten. Es gibt sie, diese Züchter, ich wollte, es gäbe mehr davon.

Die Tierärzte

Die Rolle der Tierärzte im Bereich der genetischen Diagnostik beruht auf ihrer jeweiligen fachlichen Kompetenz zur Bewertung klinischer Befunde. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass für züchterische Screeninguntersuchungen die gleichen Qualitätskriterien gelten wie für jede andere Diagnoseform auch. So ist sowohl die Forderung nach einer hohen Wiederholbarkeit als auch die Forderung nach einer hohen Validität der Diagnoseverfahren zu stellen. Denn das bereits genannte Problem der oft unterschiedlichen Befundung ein und desselben Hundes durch verschiedene Tierärzte führt zu Verunsicherung der Züchter und damit auch oft zu fehlender Akzeptanz eines diagnostischen Verfahrens. Und da Hundezuchtverbände ja keiner gesetzlichen Regelung unterliegen, ist es nun mal Sache der Züchter, die Nutzung eines angebotenen Screeningverfahrens mehrheitlich zu beschließen oder eben auch abzulehnen. 

Auch hier soll nicht verschwiegen werden, dass Tierärzte, die im Bereich der züchterischen Screeningdiagnostik arbeiten, in den meisten Fällen spezielle Fortbildungen absolviert haben und es für die meisten Bereiche spezialisierte Arbeitsgruppen gibt, die Aus- und Fortbildungen anbieten und die die Qualität der Diagnostik regelmäßig überprüfen. 

Aber auch in ihrer kurativen Tätigkeit sind Tierärzte in das züchterische Geschehen eingebunden. Hier sind sie in manchen Fällen sogar eine Art »Mittäter«, wenn es darum geht, genetische Defekte durch eine entsprechende Therapie zu verschleiern. Es wäre daher wünschenswert, wenn jeder Tierarzt, der eine genetisch bedingte Erkrankung behandelt, den Tierbesitzer nachdrücklich darauf hinweist, dass die Behandlung nur den Phänotyp des Hundes kurieren kann, nicht aber seinen Genotyp. Und dass der züchterische Einsatz eines kurierten aber genetisch belasteten Hundes genau genommen sogar einen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz darstellt.

Wie schon mehrfach erwähnt, spielen die Tierärzte im Bereich der Hundezucht heute auch eine sehr wichtige Rolle. Sie sind es, die für den Bereich der Screeningdiagnostik von erblichen Erkrankungen verantwortlich sind, und sie sind es, die alle auftretenden Erkrankungen dann auch behandeln. Es klingt zynisch zu sagen, dass die Tierärzteschaft praktisch von den Fehlern der Züchter profitiert, aber Fakt ist, dass ein sehr großer Teil der tierärztlichen Klientel gesundheitliche Probleme hat, die eine genetische Grundlage haben.

Die Welpenkäufer

Die Welpenkäufer sind es, die ja letztlich die genetisch bedingten Erkrankungen mit ihren Hunden direkt ausbaden müssen. Sie sind es, die die Tierarztrechnungen bezahlen müssen, sie müssen den Alltag mit einem kranken oder behinderten Hund managen und sie sind es, die den frühzeitigen Verlust eines kurzlebigen Hundes betrauern müssen. Sie sind es aber auch, die die Information über genetisch bedingte Erkrankungen haben und damit auch die Möglichkeit, diese Informationen weiterzugeben. 

Ich kenne viele Züchter, die immer wieder mehr oder weniger vergeblich versuchen, Informationen über den Gesundheitszustand der von ihnen gezüchteten Hunde von deren Besitzern einzuholen. Besonders schwierig wird es dann, wenn die Information verbunden ist mit der Notwendigkeit einer veterinärmedizinischen Untersuchung. So gibt es Züchter, die beim Verkauf ihrer Welpen die Kosten z.B. einer HD-Untersuchung auf den Kaufpreis aufschlagen mit der Zusicherung, diesen Betrag bei Vorlage eines HD-Befundes wieder zurückzuzahlen. Aber auch solche Maßnahmen sind nur bedingt wirksam. Denn für den Welpenkäufer, der nicht selbst züchten will, ist in den meisten Fällen nur der erkennbare Gesundheitszustand seines Hundes interessant. Die Bedeutung, die ein Screeningbefund für den Züchter und damit auch für die ganze Zuchtpopulation hat, ist den meisten Hundekäufern nicht bewusst. Aber nur ein Züchter, der möglichst umfangreiche Informationen über seine Nachzucht hat, kann dieses Wissen auch in einer entsprechenden Zuchtstrategie umsetzen.

Die zweite Funktion der Welpenkäufer ergibt sich bereits vor dem Kauf eines Welpen. Ich staune immer wieder darüber, dass sich Menschen, die vor dem Kauf eines Autos oder einer Waschmaschine tage- oder wochenlang Prospekte und Testberichte studieren und sich von allen möglichen Seiten beraten lassen, oft völlig spontan bzw. ohne sich entsprechend zu informieren einen Hund zulegen. Würden mehr Hundekäufer sich vor dem Kauf umfassend über rassetypische Erkrankungen und Gesundheitsrisiken informieren, würde es für viele Züchter schwieriger werden, ihre Welpen zu verkaufen, und die Motivation zur Zucht gesunder Hunde würde steigen. Denn in dieser Hinsicht gelten für die Hundezucht die gleichen Regeln wie für jeden anderen Produktionszweig – was sich nicht verkaufen lässt, wird irgendwann nicht mehr produziert. 

Eine wichtige Rolle bei der züchterischen Bekämpfung genetischer Defekte spielen auch die Welpenkäufer. Und zwar gleich in doppelter Hinsicht.

Wenn Rassen Mode werden

Häufiger passiert aber das genaue Gegenteil, wenn eine Rasse in Mode kommt. Gründe dafür gibt es viele. Angefangen vom Lassie-Syndrom, das durch den Collie einer Filmserie aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgelöst wurde, über Rassen wie Bassets, Dalmatiner, Retriever, West Highland White Terrier und andere mehr, die durch Filme oder durch Werbung bekannt und beliebt wurden. Die Folgen sind immer die gleichen. Die Nachfrage nach Hunden der jeweiligen Rasse steigt und damit steigen im Allgemeinen auch die Preise. Und Züchter der jeweiligen Rasse wollen verständlicherweise von der gesteigerten Nachfrage profitieren. Und damit wird vermehrt gezüchtet, oft unter Missachtung von gesundheitsrelevanten Selektionskriterien. Man kann hier den Züchtern nicht mal wirklich Vorwürfe machen. Denn wenn es nicht die Verbandszüchter sind, die die Nachfrage bedienen, dann sind es nicht organisierte Züchter, im schlimmsten Fall Massenzüchter, oft aus dem Ausland, die ohne jegliche Berücksichtigung genetischer und verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse Welpen der gerade gefragten Rassen produzieren und zu weitaus günstigeren Preisen, als es dem seriösen Züchter möglich ist, auf den Markt bringen. Dass der günstige Preis nur auf den ersten Blick günstig ist, wird den Hundekäufern spätestens dann bewusst, wenn die Tierarztrechnungen in astronomische Höhen steigen oder sich der niedliche Welpe auf Grund unzulänglicher Sozialisation zu einem ängstlichen und unsicheren Problemhund entwickelt.

Die Formwertrichter

Zwar müssen Richter sich bei ihrer Bewertung am Rassestandard orientieren. Die meisten Standardbeschreibungen sind aber wenig präzise und lassen einer individuellen Interpretation durch den Ausstellungsrichter viel Spielraum. Und obwohl Formwertrichter im Gegensatz zu den Züchtern eine sehr aufwändige und sachorientierte Ausbildung hinter sich bringen müssen, bevor sie selbständig richten können, scheint in vielen Fällen der persönliche Geschmack das gelernte Wissen zu überlagern. Denn sonst wären die vielen extremen Auswüchse in der Rassehundezucht kaum möglich. Vielleicht wäre es auch wünschenswert, wenn in der Ausbildung der Formwertrichter ein wenig mehr an veterinärmedizinischen Inhalten integriert wäre, damit es jedem Formwertrichter, der einen Hund mit offensichtlich gesundheitsrelevanten Rassemerkmalen an die Spitze stellt, auch klar ist, was er den Hunden dieser Rasse antut. 

Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen aber auch hier wieder menschliche und zwischenmenschliche Aspekte. Richter wollen ihre Funktion auch ausüben, und das können sie nur, wenn sie auch zu den Ausstellungen eingeladen werden. Ein Richter, der zu oft gegen die züchterischen Intentionen eines Zuchtverbandes richtet, wird nicht mehr eingeladen. 

Einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer Hunderasse haben auch die Ausstellungsrichter. Sie sind es, die entscheiden, welcher Hund einen Ausstellungswettbewerb gewinnt und welcher Hund nach hinten gestellt wird. Und sie sind es, die damit auch langfristig mitentscheiden, in welche Richtung sich eine Rasse entwickelt. Die teils extremen Veränderungen, die manche Rassen im Lauf der letzten Jahrzehnte durchgemacht haben, wären nicht möglich gewesen ohne Zuchtrichter, die extreme Varianten einer Rasse bevorzugt haben.

Und so schließt sich der Kreis 

Verbandsstrukturen – Menschen – Menschliches und Zwischenmenschliches. Das Problem ist immer am anderen Ende der Leine. Was für die Haltung und Erziehung der Hunde gilt, gilt auch für die Hundezucht. Es sind somit aber auch die Menschen, die es in der Hand hätten, andere, bessere Wege einzuschlagen und damit der Zucht gesunder Rassehunde eine Chance zu geben.

Über den Autor: Univ. Prof. Dr. Irene Sommerfeld-Stur ist eine österreichische Populationsgenetikerin, Expertin auf dem Gebiet der Hundezucht und außerordentliche Professorin an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.